LESEPROBE
Herzlich willkommen in Menschenhausen! Wie ihr euch sicherlich denken könnt, leben hier Menschen. Aller Sorte Menschen: große kleine, dünne, dicke - wie eben überall auf der Welt. Nur sind in Menschenhausen alle irgendwie besonders, denn hier ist jeder viel zu - na ja - viel zu irgendwie.
Zum Beispiel Madame Blanche mit ihrem viel zu langen Hals, der einer Giraffe fast schon Konkurrenz macht. Oder Señor Carlos mit seinem viel zu eckigen Kopf, der an ein Paket erinnert. Nicht zu vergessen Mrs. Margret mit ihren viel zu kurzen Beinen, ähnlich einem Dackel und Herr Bäcker mit seinem viel zu runden Wassermelonen-Bauch usw. und so fort.
Jeder hier, wirklich jeder hat irgendetwas viel zu viel oder viel zu wenig. Aber das scheint niemanden zu stören, denn alle haben ja irgendeinen Makel.
Fräulein Gretchen, die Tochter von Herrn Bäcker, stört sich nicht an ihren viel zu dünnen Haaren auf dem Kopf, die wie Spaghettis herunterhängen, denn dafür hat sie ja viel längere Beine als Mrs.
Margret und einen kürzeren Hals als Madame Blanche.
Auch Don Perdon, der Bruder von Señor Carlos, stört sich nicht an seinen viel zu dicken Armen, denn dafür hat er nicht viel zu schmale Augen wie sein Nachbar von gegenüber, Monsieur
Tinto, der Mann von Madame Blanche, und seine Zähne sind auch nicht so zu schief wie bei dem Mann von
Mrs. Margret, Mr. Perkins – besonders, wenn er lacht, und Mr. Perkins lacht sehr viel.
Ja, Menschenhausen ist ein friedliches kleines Städtchen irgendwo im nirgendwo. So klein, also viel zu klein, dass man es auf der Landkarte gar nicht erkennen
kann. Um genau zu sein, liegt es Südlich vom Nordpol, in der Mitte von Ost und West.
Den Bewohnern von Menschenhausen gefällt es in ihrem Städtchen so sehr, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, ihr trautes Heim zu verlassen. Warum auch? Sie haben
hier ja alles, was sie brauchen. Einen Platz zum Schlafen, genug zu essen und natürlich ihre Freunde, die sie - trotz ihrer viel zu großen oder viel zu kleinen Fehlern - gern haben.
Es gibt hier keinen Grund, um nicht jeden Tag glücklich und zufrieden aufzustehen. Das heißt, bisher gab es noch keinen Grund, denn an diesem besonderen Tag wird
sich alles ändern.
Plötzlich steht nämlich ein rotes Cabriolet - ihr wisst schon, das Auto mit dem offenen Dach - auf der Mitte der Hauptstraße. Und in dem hübschen Fahrzeug sitzt eine noch viel hübschere junge Frau. Wie alle bald erfahren sollten, ist das die junge Nichte von Mrs. Margret: Lady Betty.
Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und einem kleinen Koffer in der Hand steigt sie so graziös wie eine Gazelle aus ihrem Fahrzeug und geht geradewegs auf das zitronengelb-gestrichene Haus ihrer Tante zu. Dabei blickt sie sich fröhlich um und grüßt alle Leute, die sich neugierig um ihr rotes Cabriolet versammelt haben. So oft kommt das nämlich nicht vor, dass fremder Besuch sich nach Menschenhausen verirrt. Um genau zu sein, kam das schon seit über hundert Jahren nicht mehr vor. Weil die Stadt auf keiner Landkarte vermerkt ist, weiß keiner den Weg hierher. Wie es diese junge Dame geschafft hat, ist allen ein Rätsel.
Erst als Mrs. Margret die Tür öffnet und ihrer Nichte strahlend um den Hals fällt, ist das Rätsel um die schöne Unbekannte geklärt. So unbekannt ist sie ja
anscheinend nicht.
Auch Madame Blanche und Fräulein Gretchen sind vor die Haustür getreten, um nachzuschauen, was es mit dem roten Fahrzeug plötzlich auf sich hat.
Da die beiden Nachbarinnen sind, erklärt es sich von selbst, dass sie gerne über die neuesten Neuigkeiten tratschten.
Den Blick auf Lady Betty gerichtet, begutachtet Madame Blanche den Neuankömmling von Kopf bis Fuß. Auch Fräulein Gretchen inspiziert Lady Betty mit kritischem
Blick, die von alledem nichts mitbekam, weil sie mit dem Rücken zu ihnen steht.
„Sieh mal Gretchen, Mrs. Margret scheint die Neue zu kennen“, sagt Madame Blanche zu ihrer Nachbarin gewandt.
„Woher aber bloß?“, entgegnete diese. „Meinst du, sie sind miteinander verwandt?“
Die beiden Frauen schauen wieder auf Lady Betty.
„Aber sie sehen sich gar nicht ähnlich“, fügt sie hinzu.
Das stimmt übrigens. Lady Betty hat mit ihrer Tante so viel gemeinsam, wie ein Hund mit einer Katze. Sie hat nämlich ganz und gar keine viel zu kurzen Beine. Ihre Beine sind schön lang, aber eben nicht viel zu lang. Sie haben die genau richtige Länge.
Auch ihr Hals ist weder zu lang, noch zu kurz, denkt sich Madame Blanche ganz eifersüchtig. Allgemein entgeht es ihr nicht, dass gar nichts an Lady Betty viel zu
irgendwie ist.
Wenn überhaupt irgendetwas irgendwie an ihr ist, dann ist es ihr goldenes Haar, das in großen Locken über ihre Schultern fällt und viel zu schön ist, um wahr zu
sein, denkt sich auch Fräulein Gretchen voller Neid.
Die beiden Damen spitzen die Augen, um irgendeinen Fehler an der Neuen zu finden. Irgendetwas muss doch mit dieser Lady Betty nicht stimmen. Jeder hier hat
irgendeinen Makel. Doch so sehr sie auch nach einem Fehler suchen, sie finden zu ihrem Bedauern keinen.
Das fällt übrigens auch den Männern aus der Stadt auf, die sich inzwischen wie ein Ameisenhaufen um das Haus von Mrs. Margret versammelt haben.
So eine Schönheit haben sie noch nie zuvor gesehen. An Lady Betty ist wirklich alles genau so, wie es sein soll. Die Augen schön groß, die Nase schön klein, der
Kopf schön rund, der Bauch schön flach.
Lady Betty ist: perfekt!